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Leseprobe Whispering Pines: Fly again

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Kapitel 1

Megan

Nie wieder wollte ich einen Fuß in dieses Nest setzen.

 

Ich habe alles an Whispering Pines gehasst.

 

Die Enge, das jeder kennt jeden und alle wissen alles über dich.

 

Das vorskizzierte Leben, das mich erwartet hat.

 

Die Erwartungen, die in mich gesetzt wurden.

 

Der bloße Gedanke, dass es bis ans Ende meiner Tage keinerlei Überraschungen mehr für mich geben würde, hat mir solche Angst gemacht, dass ich mich ausschließlich an Colleges so weit weg wie irgend möglich beworben habe.

 

Damals konnte ich nach der Highschool gar nicht schnell genug von hier wegkommen, die Vorstellung, hier lebendig begraben zu sein, war ein Albtraum für mich.

 

Und jetzt?

 

Jetzt ist ausgerechnet diese Kleinstadt im Bundesstaat Louisiana meine einzige Alternative.

 

»Mommy, wann sind wir denn endlich da?!«, quengelt meine fünfjährige Tochter Millie in ihrem Kindersitz. »Ich habe Hunger, Durst und muss mal Pippi!« Ihre Stimme ist schrill, gleichzeitig knetet sie ihren heißgeliebten Teddybären, ein Geschenk meines Noch-Ehemannes zu ihrem letzten Geburtstag.

 

»Es ist nicht mehr weit bis zu Tante Brooke. Kannst du es so lange aushalten?« Über den Rückspiegel sehe ich ihr energisches Kopfschütteln, dazu schiebt sie ihre Unterlippe vor. »Okay, Süße, da vorn ist ein Diner, wir halten dort, ja?«

 

Auf gar keinen Fall will ich einen neuerlichen Tobsuchtsanfall riskieren, wie sie ihn zuletzt hatte, als es an der Tankstelle entgegen meinem zuvor gegebenen Versprechen keine Twinkies gab, weil diese ausverkauft waren. Natürlich war sie mit keiner möglichen Alternative einverstanden, hat geweint und mich eine Lügnerin genannt. Eigentlich ist Millie ein liebes, umgängliches und leicht zufriedenzustellendes Kind, aber all das hat sich geändert, seit ihr Vater und ich uns getrennt haben. Aus ihrer kindlichen Sichtweise bin allein ich schuld daran, dass ihr Daddy und ich nicht mehr zusammen sind. Nun schleife ich sie quer durchs Land zu einer Tante sowie meiner Grandma, die sie selbst noch nie gesehen hat und bei denen wir – das weiß sie Gott sei Dank nicht – nicht wirklich willkommen sind.

 

Ich parke den SUV, den ich mir von meinen letzten Ersparnissen gekauft habe, in einer der Parkbuchten direkt vor Miranda Lawsons Diner, in dem ich früher als Teenager ein- und ausgegangen bin. Wehmut überkommt mich bei den mich nun überrollenden Erinnerungen, egal wie sehr ich damals hier wegwollte. Tief durchatmend wappne ich mich für das unweigerlich Kommende, das Lokal war seinerzeit ein Treffpunkt für die Urgesteine des Orts und wird es garantiert auch heute nach wie vor sein. Eigentlich hatte ich gehofft, den ersten Begegnungen mit Stadtbewohnern noch ein bisschen ausweichen zu können, vor allem der mit Miranda. Sie ist die Mutter meiner ersten großen Liebe und wird sicher ebenso wenig gut auf mich zu sprechen sein, wie es bei meiner kleinen Schwester und Grams der Fall ist.

 

»Warte, ich helfe dir«, ermahne ich Millie, als ich über den Rückspiegel sehe, dass sie schon dabei ist, sich selbst abzuschnallen.

 

»Ich kann das allein!«

 

Ihre liebsten vier Worte zurzeit, gefolgt von Nein.

 

Rasch löse ich den Sicherheitsgurt, steige aus und umrunde das Fahrzeug halb. Millie funkelt mich böse durch das Seitenfenster an, weil sie die Tür nicht ohne mich öffnen kann, Kindersicherung sei Dank. Gegen ihren Protest hebe ich sie aus dem Kindersitz und stelle sie neben mich auf den Asphalt, fische meine Handtasche aus dem Fußraum vor der Rückbank.

 

Wenigstens verschafft mir dieser ungeplante Zwischenstopp etwas Zeit, ich kann die Begegnung mit meiner kleinen Schwester Brooke und Grandma so ein bisschen herauszögern. Dieses Wiedersehen wird unschön, daran habe ich nicht den geringsten Zweifel, dagegen dürfte das mit Miranda Lawson wahrscheinlich noch harmlos werden.

 

Brooke und ich haben nicht mehr miteinander geredet, seit ich Whispering Pines verlassen habe, mit Grams habe ich ab und an telefoniert, aber auch das wurde im Laufe der Jahre immer seltener. Die Gründe, die dazu geführt haben, verdränge ich ganz schnell. Würde mir auf dem Papier nicht die Hälfte unseres Elternhauses gehören und wäre Brooke in der Lage gewesen, mich auszubezahlen, würde sie mir keinen Unterschlupf gewähren. So muss sie zähneknirschend in den sauren Apfel beißen und ihrer großen Schwester sowie ihrer Nichte ein Dach über dem Kopf geben. Mir selbst gefällt diese Situation ebenso wenig, doch ich habe keine Wahl. Millie braucht ein Zuhause, ich ebenfalls, und wir mussten gehen. Meine Tochter ist zu jung, um das zu verstehen, ich hoffe nur, dass sie sich mit der Zeit hier wohlfühlen, Freunde finden und aufblühen wird.

 

Mehr als alles andere wünsche ich mir, dass mein kleines Mädchen wieder lacht.

 

Es ist zwar nicht einmal Mittag, aber schon brütend heiß. Die Sommer in Whispering Pines sind wie für diese Region Louisianas typisch schwülwarm und oft an der Grenze des Erträglichen. Dieses Klima bin ich nicht mehr gewohnt, in Seattle waren die Sommermonate milder und trockener. Seufzend wische ich mir über die mit einem feinen Schweißfilm bedeckte Stirn, hänge mir dann die Handtasche über die Schulter und will nach Millies Hand greifen.

 

»Mommy, lass mich! Ich kann das allein!« Ohne auf mich zu achten, stürmt sie voraus in Richtung des Diners, dessen Türen soeben geöffnet werden.

 

»Millie, was habe ich dir über das Herumrennen in Straßennähe gesagt?! Warte!«, rufe ich, als sie in einen Mann hineinrennt, der das Lokal gerade verlassen möchte.

 

»Hoppla, da hat es aber jemand eilig!«

 

Mein Herz stolpert, das Blut gefriert mir in den Adern und eine Gänsehaut bildet sich trotz der vorherrschenden Glutofentemperaturen auf meinem Körper. Noch ehe er den Kopf hebt und in meine Richtung sieht, weiß ich, mit wem Millie einen Zusammenstoß hatte.

 

Ryder Lawson.

 

Mein Highschool-Crush, im letzten Schuljahr mein Freund und meine erste große Liebe.

 

Der Junge, mit dem ich so viele erste Male hatte.

 

Doch er hat nichts mehr gemeinsam mit dem Bild, das ich stets in meiner Erinnerung von ihm hatte.

 

Meine Atmung geht zunehmend schneller, während ich ihn scanne, damit, dass ein Wiedersehen mit ihm so eine Wirkung auf mich haben würde, habe ich nicht gerechnet. Offengestanden wusste ich nicht einmal, ob er tatsächlich noch in Whispering Pines lebt oder das Städtchen mittlerweile verlassen hat.

 

Du bist eine Idiotin, Megan.

 

Die Lawsons sind praktisch das Herz dieser Stadt, Ryder hat stets davon gesprochen, dass er sich hier etwas aufbauen will, wenn er mit dem College fertig ist. Trotzdem … er war ein halbes Kind, als er das gesagt hat.

 

Ebenso wie du, und du hast es ernst gemeint.

 

Er hat anscheinend noch mal einen Schub in die Höhe gemacht, jedenfalls kommt er mir größer als zu Highschoolzeiten vor. Seine dunkelbraunen Haare trägt er kürzer und an den Seiten anrasiert, aber sie sind immer noch unordentlich, so, als wäre er gerade aus dem Bett gekrochen. In seinen blaugrünen Augen liegt ein erstaunter Ausdruck, offensichtlich hat sich meine Rückkehr bislang nicht bis zu ihm herumgesprochen. Normalerweise funktioniert der Buschfunk in diesem Örtchen sonst ausgezeichnet. Vermutlich werden Brooke und Grams niemandem davon erzählt haben, in der Hoffnung, dass ich es mir anders überlegen würde.

 

»Meg«, murmelt er, dann räuspert er sich. »Megan, das ist ja eine Überraschung.« Seine eben noch leicht kratzige Stimme ist nun ohne jede Emotion.

 

»Mommy, ich mache mir gleich in die Hose!« Millie wippt verzweifelt auf ihren kleinen Füßen hin und her, was mich endlich aus meiner Starre löst.

 

»Ähm, ja, ich … wir …«, stottere ich, während ich mich in Bewegung setze und auf die beiden zugehe. »Wir …«

 

Mein Hirn ist wie leergefegt, wie verhält man sich dem Jungen … Mann gegenüber, von dem man sich damals getrennt hat, weil die Zukunftsvorstellungen so unterschiedlich waren? Wirklich im Streit sind wir nicht auseinandergegangen, im Guten aber auch nicht, Kontakt gehalten hat danach keiner von uns. Wir waren eines dieser typischen Higschool-Pärchen, viele trennen sich, sobald sie die Schule beendet haben und es auf verschiedene Colleges geht, oder? Die wenigsten haben Bestand, man verliert sich aus den Augen, das ist ein ganz natürlicher Vorgang. Trotzdem fühle ich mich für einen Moment mies, weil ich nie zurückgeblickt habe.

 

»Mommy!« Millies panisches Kreischen schrillt mir in den Ohren.

 

»Ich … ähm … ich …« Was ist denn bloß mit meinem Sprachzentrum los?!

 

Ryder nickt lediglich, als würde er keine Erklärung erwarten, blickt auf meine Tochter hinunter und zwinkert ihr zu. »Da drin gibt’s die besten Apfel-Zimt-Pfannkuchen des gesamten Bundesstaats, falls dir deine Mom das noch nicht erzählt hat.«

 

Millies Augen leuchten auf. »Ehrlich?! Ich liebe Pfannkuchen!« Ihr Zopf schwingt auf und ab, so heftig nickt sie.

 

»Ehrlich. Der Erdbeer-Milchshake ist auch großartig.«

 

»Oh, darf ich beides haben?!«, wendet sich Millie aufgeregt an mich.

 

Obwohl sie wahrscheinlich einen Zuckerschock bekommen wird und ich das später bereuen werde, nicke ich, kann ihr den Wunsch nicht abschlagen.

 

Unverhofft, aber vor allem unerwünscht höre ich die Stimme meines Ex in meinem Kopf. Du lässt ihr zu viel durchgehen, Megan. Dieses Kind ist nicht repräsentabel, das geht so nicht. Was sollen denn meine Geschäftspartner denken, wenn sich Millicent wie eine verzogene Göre aufführt?

 

Millicent, ich habe diesen Vornamen nicht gewollt, dennoch hat er sich durchgesetzt, wie immer. Der Name seiner Großmutter, den er unbedingt weitergeben wollte und den ich zu altmodisch für ein kleines Mädchen fand. Deswegen bin ich dazu übergegangen, sie Millie zu nennen, was ihm natürlich nicht gepasst hat.

 

Dass er über sie geredet hat, als wäre sie irgendein Möbelstück, Kunstwerk oder Ähnliches, lässt mich wie jedes Mal in der Erinnerung daran wieder erschaudern.

 

Millie hat von unseren Auseinandersetzungen ihretwegen oder besser gesagt wegen meiner in Marcus‘ Augen so mangelhaften Erziehung nie etwas mitbekommen, und das ist auch gut so.

 

Ryder mustert mich mit einem besorgten Ausdruck, sodass ich schnell lächele. Hoffentlich sieht es nicht so übertrieben und irre aus, wie es sich anfühlt.

 

»Nun dann, ich muss weiter.« Kurz hockt er sich vor Millie. »Willkommen in Whispering Pines, kleine Lady.«

 

Sie kichert und bedankt sich.

 

»Megan …« Er richtet sich auf, tippt sich an die Stirn und geht die Straße hinunter.

 

Ich schaue ihm hinterher, doch er dreht sich nicht noch einmal um. Als ich mich dabei erwische, dass ich ihm auf den knackigen Hintern in der engen Jeans starre, fluche ich unterdrückt.

 

»Du musst einen Dollar in die Fluchkasse zahlen«, ermahnt mich Millie mit gewichtiger Miene, offensichtlich war ich nicht leise genug.

 

»Was hältst du davon, wenn wir den in deinen Milchshake investieren, hm?«, schlage ich ihr vor, während ich die Tür zum Diner öffne.

 

»Au ja! Aber erstmal muss ich wirklich auf die Toilette, Mommy!«

 

Miranda steht gerade hinterm Tresen und schenkt einem Gast Kaffee ein, als sie mich entdeckt, reißt sie geschockt die Augen auf. Gleich darauf wird ihr Gesichtsausdruck verschlossen, was sich allerdings ändert, sobald sie Millie bemerkt. Nun zeigt sich ein freundliches und nur für meine Tochter bestimmtes Lächeln auf ihren Lippen. Anders verdient habe ich es wahrscheinlich nicht, obwohl ich im Grunde seinerzeit nichts weiter getan habe, als meinen Träumen zu folgen.

 

Ich beschließe, mich von ihr nicht einschüchtern zu lassen. Trotzdem beschleicht mich ein mulmiges Gefühl, während wir uns langsam durch das Lokal bewegen. Sämtliche Gäste starren mich an und ich wünschte, ich könnte mich in Luft auflösen.

 

Willkommen in Whispering Pines.

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