Leseprobe
Out of Bounds: Maddox & Eliza
Kapitel 1
Maddox
Es ist Super-Bowl-Sonntag und ich habe die Spätschicht. Ich verabscheue diese Schicht und würde so weit gehen, zu sagen, dass das jeder hier im Krankenhaus tut.
Zwischen zwei schnellen Bissen von einem drittklassigen Sandwich verfluche ich den heutigen Tag zum gefühlt einhundertsten Mal. Dieses Jahr habe ich den Kürzeren gezogen, weil ich noch recht neu als Arzt hier arbeite. Fuck! Ich hasse mein Leben und meine Berufswahl seit drei Stunden, dabei ging der Tag so entspannt los. Sogar das Game konnte ich mir ansehen, in der Notaufnahme herrschte, wie jedes Jahr, gähnende Leere.
Aber das hat sich inzwischen geändert und wir sind hier in Kanada bei weitem nicht so footballverrückt wie unsere Nachbarn. Doch auch bei uns wird getrunken, sich geprügelt, dumme Entscheidungen werden in völliger Selbstüberschätzung getroffen und generell scheint sich das ganze Land verschworen zu haben, es ihrem Krankenhauspersonal möglichst schwer zu machen.
»Dr. Hayes, bitte in die Notaufnahme!«, ertönt eine Durchsage, gleichzeitig geht mein Pager, und ich stöhne.
Danke für nichts! Aber das Sandwich war eh scheiße.
Immerhin vergeht die Zeit schnell, wenn die Notaufnahme wie von einer Horde Gremlins überrannt wird. Weiterer positiver Nebeneffekt ist, dass ich danach zu erschöpft bin, um von Albträumen geplagt zu werden. Die meisten Assistenzärzte beklagen sich über ihren völlig gestörten Schlaf-Rhythmus, mir hingegen spielt exakt das in die Karten. Irgendwann gewöhnt man sich an den inneren Zombie.
Mein neuer Patient wartet laut meinem Tablet bereits in Behandlungsraum zwei. Eine Schnittverletzung. Minderjährig. Was auch sonst?
Ich seufze und will mich gerade zur Rezeption begeben, um mich über die Eltern oder andere anwesende Erziehungsberechtigte zu informieren, friere allerdings wortwörtlich auf halbem Weg ein, als ich sehe, wer dort mit der diensthabenden Schwester redet. Erst glaube ich, meine Augen spielen mir einen Streich, aber auch, als ich blinzele, ändert sich das Bild nicht.
Eliza Byrne steht an der Anmeldung.
Scheiße, was macht sie denn hier?!
Was macht meine Ex in meinem Krankenhaus?!
Für ein paar Sekunden kann ich nichts anderes tun, als sie anzustarren, während um mich herum die Hölle tobt. Ein vorbeieilender Pfleger rempelt mich an, murmelt eine Entschuldigung und reißt mich so aus der Schockstarre.
Damit kann ich mich heute nicht auch noch befassen!
Auf ein Wiedersehen mit der Frau, die gleichzeitig meine erste große Liebe, aber auch diejenige war, die mir brutal das Herz gebrochen hat, kann ich verzichten. Außerdem braucht mich der minderjährige Patient mit der Schnittverletzung. Ich setze mich in Bewegung und schaue nach seinem Namen auf dem Tablet, woraufhin ich erneut an Ort und Stelle stehenbleibe.
Fuck.
Natürlich. Wie sollte es auch anders sein? Die Krönung dieses Katastrophen-Tages lese ich erst jetzt.
Er ist es.
Selbstverständlich muss der kleine Bruder meiner Ex-Freundin und Nummer-Eins-Herzensbrecherin am beschissenen Super-Bowl-Sonntag hier mit einem Schnitt auftauchen.
Wieder werde ich durch ein Anrempeln aus meiner Starre gerissen, dieses Mal läuft Eliza an mir vorbei in das Behandlungszimmer. In mein Behandlungszimmer, in das ich nun auch hineingehen muss. Was habe ich getan, damit mich Karma ausgerechnet heute mit einem Strap-on bearbeitet?
»Jason Byrne, was zum Teufel machst du in einem Krankenhaus?!«, erklingt in dieser Sekunde die besorgte Stimme seiner Schwester. »O Gott, wie ist das denn passiert?«
Selbst nach all den Jahren sorgt ihre Stimmfarbe dafür, dass mir ein Schauer über die Wirbelsäule jagt. Mein Puls beschleunigt, als ich durch die sperrangelweit offenstehende Tür zum Behandlungszimmer beobachte, wie sie Jason umarmt. Ganz automatisch muss ich daran denken, wie oft sie das bei mir getan und wie gut sich das angefühlt hat.
Dieser Erinnerungsmist muss sofort aufhören, das ist hochgradig unprofessionell.
Neben Jason steht, das registriere ich erst jetzt, Carter Holland.
Hauptberuflich Cop, nebenberuflich Cage-Fighter. Seinen Beruf respektiere ich, seine Freizeitbeschäftigung verachte ich aus tiefstem Herzen.
Eliza ist so fokussiert auf ihren Bruder, dass sie mich bislang nicht bemerkt hat. Bei Jason bin ich mir allerdings relativ sicher, dass er mich trotz der Jahre, die vergangen sind und in denen ich mich auch optisch verändert habe, erkannt hat. Immerhin hat er von der Liege aus direkte Sicht auf mich. Da er mich bloß neugierig mustert, hat er wahrscheinlich nicht allzu viel von dem, was damals gelaufen ist, mitbekommen.
Länger kann ich mich nicht davor drücken, also betrete ich den Raum und schließe die Tür. Mich räuspernd stelle ich mich dem Unvermeidlichen. »Hallo zusammen, ich bin Dr. Hayes«, beginne ich und Elizas Kopf ruckt zu mir herum.
Sie starrt mich so an, wie ich vermutlich vorhin sie: als würde sie einen Geist sehen.
»Maddox?!« Nun ist ihre Stimme kratzig, wie immer, wenn sie aufgewühlt ist. Schreck kennzeichnet zunächst ihre Miene, doch dann zeigt sich eine andere Emotion zunehmend deutlicher.
Wut.
Genau diese Emotion beginnt auch in mir zu brodeln. Wieso zum Teufel bitte ist sie wütend? Sie hat überhaupt kein Recht darauf!
»Ihr … kennt euch?«, klinkt sich Carter ein.
»Aus einem anderen Leben, aber das tut jetzt nichts zur Sache«, brumme ich und setze mein Arztgesicht auf. Anschließend trete ich näher und konzentriere mich auf Jason, der den linken Arm gegen seinen Oberkörper presst und ihn am Ellenbogen umfasst hält. »Ist es okay für dich, wenn die beiden bleiben?«, richte ich das Wort direkt an ihn. Jason nickt und ich verkneife mir ein Seufzen, ich hatte mir eine gegenteilige Antwort erhofft. »Darf ich mir das mal ansehen?«
Elizas Bruder war noch ein Kind, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Inzwischen ist er laut seinen Daten siebzehn, so alt wie seine Schwester, als wir … energisch verbiete ich mir, diesen Gedanken weiterzuführen.
»Sicher«, antwortet er betont lässig und streckt mir den Unterarm entgegen, auf dem er eine etwa zehn Zentimeter lange Wunde hat. Die Ränder sind gerade, sodass ich darauf verzichten kann, einen Chirurgen herbeizurufen.
»Wie ist das passiert?«, erkundige ich mich, während ich die Verletzung weiter in Augenschein nehme.
Jasons Mimik, wenn er etwas ausgefressen hat, hat sich in all den Jahren nicht geändert und ich spüre, wie meine Augenbraue hochrutscht. »Na ja … es könnte sein, dass ich gegen Maschendraht gekommen bin. Wir hatten auf die Rams gewettet und waren danach gut drauf«, beginnt er quasi, das Musterbeispiel als Grund für die heutige Anwesenheit von achtzig Prozent der Patienten zu beschreiben, ohne zum Wesentlichen zu kommen.
»Du hast im Käfig gekämpft, nicht wahr?«, fragt ihn Eliza jedoch. »Dass ich hier bin und nicht Mom und Dad, heißt dann wohl, sie wissen nichts von diesem Käfigkampf, hm?« Mit vorwurfsvoller Miene stemmt sie die Hände in die Hüften und starrt Jason nieder, bis der beschämt die Lider senkt und nickt. Seufzend schüttelt sie den Kopf. »Ich habe dir beim letzten Mal schon gesagt, dass ich nicht ewig den Puffer zwischen dir und ihnen spielen werde. Du weißt, dass sie damit nicht einverstanden sind. Training ja, Kämpfe nein.«
»Ich lasse mir mein Leben von ihnen ganz sicher nicht diktieren!« Bei Jasons harschen Worten fährt Eliza leicht zusammen. »Mom und Dad übertreiben mit ihrer Angst total, sie halten diesen Sport für viel zu gefährlich für mich. Was glaubst du, wie sie reagieren werden, erfahren sie, dass ich deswegen ins Krankenhaus und genäht werden musste?! Du musst mich bei ihnen decken, das bist du mir als große Schwester einfach schuldig«, bittet er sie und bedenkt sie nun mit einem Welpenblick.
»Ach, du lässt dir dein Leben nicht diktieren, mit ihnen auseinandersetzen willst du dich aber ebenso wenig?!«, stichelt Eliza, gleichzeitig verdreht sie die Augen.
Jason gibt ihr keine Antwort, er zuckt bloß mit den Schultern.
»Du solltest besser auf deine Eltern hören«, murmele ich, reinige die Wunde dabei sorgfältig. »Es existieren so viele andere Möglichkeiten, dich …« Meine Stimme verliert sich, als mir klar wird, dass ich hier gerade eindeutig eine Grenze überschreite. »Wie auch immer, das muss genäht werden und es wird definitiv eine Narbe zurückbleiben. Doch du hast Glück im Unglück, das hätte deutlich schlimmer ausgehen können.«
Ich bereite Jason selbst vor, da wir heute wie jedes Jahr für den Ansturm völlig unterbesetzt sind und ich hierfür keine Schwester oder einen Pfleger belästigen will. Sobald Jason mitsamt Lokalanästhetikum fertig präpariert ist, kann ich mich voll auf meine weitere Arbeit fokussieren. Die gesamte Zeit über spüre ich Elizas Blick auf mir, am liebsten würde ich sie auffordern, das Behandlungszimmer gemeinsam mit Carter zu verlassen. Doch da es dafür keinen guten Grund gibt, muss ich die Situation aushalten. So gut es geht, blende ich alles aus, widme meine komplette Aufmerksamkeit dem Vernähen von Jasons Wunde, der sich tapfer hält, aber immer wieder murmelt, dass er zum Glück erst seine Tetanusimpfung hatte. Die Nadel zum Nähen scheint ihm nichts auszumachen, die Spritze mit dem Lokalanästhetikum hat er allerdings sehr kritisch beäugt. Also keine Impfung für den übermütigen Teenager.
»In sieben bis zehn Tagen sollten die Nähte gezogen werden. Treten wider Erwarten Komplikationen auf, werde bitte vorher bei einem Arzt vorstellig«, fordere ich Jason auf, vermeide es dabei, Eliza anzusehen.
Er nickt, danach wird sein Ausdruck abschätzig. »Du warst doch mal mit meiner Schwester zus…«
»Jason! Willst du, dass ich dich bei Mom und Dad decke, hältst du jetzt deine Klappe«, tadelt ihn Eliza empört.
Ergeben hebt er die Hände. »Schon gut, ich sage nichts mehr.« Seinen Hintern von der Liege schiebend, blickt er mich fragend an. »Wir sind fertig, oder? Muss ich noch irgendetwas beachten?«
Nickend bestätige ich ihm seine Vermutung. »Dass du für die Dauer der Heilung auf das Training oder gar Kämpfe verzichtest, ist selbsterklärend, denke ich.« Jason rollt die Augen. »Danach solltest du es langsam angehen lassen, vielleicht überlegst du dir ja auch nochmal, ob ein anderer Sport nicht besser für dich wäre.«
»Interessant, dass jemand, der selbst mal mit Begeisterung gekämpft hat, nun so vehement dagegen ist«, mischt sich Carter ein.
»Das Training mag gut für Körper, Geist und Seele sein, doch bei Kämpfen sind Verletzungen nun mal häufig. Das sage ich als ehemaliger Kämpfer, aber vor allem als Arzt und aus Erfahrung.«
Carter lacht rau. »Das sehe ich nicht so, jetzt ist nur weder der richtige Zeitpunkt noch sind wir am richtigen Ort, um das zu diskutieren. Möglicherweise ergibt sich ja mal eine andere Gelegenheit … du könntest zum Beispiel im Jugendzentrum vorbeischauen und dir ein eigenes Bild über das verschaffen, was wir dort tun.« Er nennt die Adresse des Zentrums, das in einem Torontoer Brennpunktbezirk liegt.
»Vielleicht«, antworte ich, dabei denke ich: Sicher nicht, eher friert die Hölle zu.
Ich lächele bloß unverbindlich, danach verabschiede ich mich von Jason, nicht, ohne ihn noch einmal daran zu erinnern, dass er sich vorsehen soll, bis die Verletzung verheilt ist. Irgendwie schaffe ich es, Eliza mit einem ebenso nichtssagenden Lächeln zuzunicken, Carter ebenfalls, anschließend flüchte ich aus dem Behandlungszimmer.
Erst, als ich im Aufenthaltsraum angekommen bin, erlaube ich mir einen Ausflug in die Vergangenheit. In eine Zeit, lange bevor ich mich auf Spencer Calhoun, Promoter und eines der größten Schweine der Szene, aber das habe ich leider zu spät erkannt, eingelassen und damit alles, was nachfolgend passiert ist, eingeläutet habe. Damals, als nur Eliza für mich existierte und ich für sie alles aufgegeben hätte. Doch ich musste auf schmerzhafte Art und Weise erkennen, dass sie nicht mal ansatzweise so empfunden hat. So feige, wie sie mich abserviert hat, war ich für sie nicht mehr als eine Fußnote auf ihrem Lebensweg.
Und trotzdem stehe ich hier und fühle mich das erste Mal seit jenem verhängnisvollen Käfigkampf, als hätte man mich aus einer Art Dämmerschlaf geweckt.
Was für ein beschissener Tag!