
Leseprobe Silver Linings: Bruce

Kapitel 1
Autumn
Du willst mich also ignorieren? Dich zieren?
Das ist das Spiel, was du spielen willst? So tun, als gäbe es mich nicht? UNS?
Dein stummes Versprechen, dass wir zusammen sein können, wenn ich nur geduldig bin, habe ich nicht vergessen! Ich war geduldig. Aber du hast mich verraten.
Was von jetzt an passiert, ist einzig und allein deine Schuld. Blut wird an deinen Händen kleben … sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, süße Autumn.
Ich hätte dir die Welt zu Füßen gelegt. Nun werde ich sie in Brand setzen.
Mit zitternden Fingern lasse ich das Smartphone sinken. Wut, Angst und das Gefühl, dass sich die Welt um mich herum dreht, sorgen dafür, dass ich mich hilflos fühle.
Einen wütenden Schrei ausstoßend fege ich den Kaffeebecher vor mir vom Küchentresen des kleinen Appartements, das mir für die Dauer des Drehs in Montreal von der Produktionsfirma zur Verfügung gestellt worden ist. Laut klirrend zerspringt er beim Aufprall auf dem Boden in unzählige Einzelteile, heißer Kaffee spritzt mir auf die nackten Waden und ich stoße unwillkürlich einen Schmerzenslaut aus, gefolgt von einem Fluch. Notdürftig wische ich mir die Beine mit einem Küchenhandtuch ab, Tränen steigen mir in die Augen, während ich mich bücke, um die einzelnen Scherben aufzusammeln.
Wann genau ist mein Leben bloß zu diesem nicht enden wollenden Albtraum geworden? Wo bin ich verkehrt abgebogen und in Stalker-City gelandet?
Bis heute rätsele ich, was ich getan habe, womit ich seine Aufmerksamkeit erregt haben könnte und weshalb er glaubt, es gäbe eine Art Verbundenheit zwischen uns … überhaupt ein uns … wie kann er das denken?
Habe ich jemandem falsche Hoffnungen gemacht?
Kenne ich ihn wirklich?
Nur ein Teil der Fragen, die mich an manchen Tagen beinahe um den Verstand bringen. Bin ich am Set meines aktuellen Films, überlege ich, ob er es wohl auch ist. Ist er ein Mitglied der Crew? Steht er mir tatsächlich näher, als ich ahne, wie er es in so vielen seiner Nachrichten behauptet hat? Oder will er mir das nur einreden, um mich zu verängstigen?
Dieses Ziel hat er auf jeden Fall mehr als erreicht, wenn ich mir meine zitternden Hände so anschaue.
Ich traue praktisch keiner Menschenseele mehr über den Weg, von meiner Familie mal abgesehen.
Die meisten der Freundschaften, die ich seit Beginn meiner Schauspielkarriere und schon zuvor an der Schauspielschule geknüpft habe, sind mittlerweile eingeschlafen. Korrigiere, ich habe sie einschlafen lassen. Wie soll ich mich irgendeinem von ihnen weiter anvertrauen, wenn ich ihn gleichzeitig verdächtige?
Das gilt nicht nur für meine männlichen Freunde, letztlich kann ich nicht einmal sicher sein, ob der mich terrorisierende Unbekannte wirklich ein Mann oder nicht doch eine Frau ist. Mein Bauchgefühl signalisiert mir, es ist ein Kerl, aber wer sagt mir, dass es mich nicht täuscht?
Nicht nur mein Vertrauen in andere Menschen ist weg.
Nein, ich kann mich nicht mal mehr auf mich selbst verlassen.
An manchen Tagen schaue ich morgens in den Spiegel und habe den Eindruck, in die Augen einer mir vollkommen Fremden zu blicken.
Vom Flur des Gebäudekomplexes dringen Fetzen einer Unterhaltung zu mir, meine Nachbarn lachen miteinander, als wäre die Welt völlig in Ordnung.
Für sie ist sie das wahrscheinlich auch.
Ich hingegen lebe in einer Art Paralleluniversum, von dem sie nichts wissen.
Es gibt Momente, in denen ich so verzweifelt bin, dass ich überlege, meine Karriere als Schauspielerin zu beenden.
Aber ich will mir nicht auch noch das von ihm nehmen lassen … und kann ich sicher sein, dass ihn das davon abhalten würde, mich weiter zu verfolgen?
Ich habe so hart gearbeitet, um an diesen Punkt zu kommen. Es war ein Kampf, mich mit dem großen Namen, den ich nun einmal trage, freizuschwimmen und zu beweisen, dass ich wirklich Talent habe. Wie oft ist gerade in meiner Anfangszeit behauptet worden, ich hätte eine Rolle nur bekommen, weil ich Logan Davenports Tochter bin? Dass mein Dad der Frontmann einer der bekanntesten und erfolgreichsten Rockbands Kanadas ist und bloß das überhaupt dazu führe, dass ich als Schauspielerin engagiert werde? Dass ich ohne Gravity und ihren Bekanntheitsgrad gar keine Chance hätte und nicht ein Rollenangebot erhalten würde?
Gebe ich nun auf, hat der Unbekannte gewonnen.
Ich höre, wie meine Nachbarn ihre Unterhaltung beenden und einander einen schönen Tag wünschen. Um ihre Unbeschwertheit und Fröhlichkeit beneide ich sie für ein paar Augenblicke so stark, dass es mich beinahe körperlich schmerzt.
Wann habe ich mich zuletzt so gefühlt?
Ich weiß es nicht mehr.
Beim Aufheben einer besonders scharfkantigen Porzellanscherbe schneide ich mir prompt in die Handinnenfläche, Blut quillt aus der Wunde hervor, rot und zähflüssig tropft es auf die Fliesen.
Blut wird an deinen Händen kleben.
Schaudernd sinke ich nach hinten, lasse mich einfach auf den Po plumpsen und lehne mich gegen die Küchenzeile in meinem Rücken.
Der Experte, den meine Agentin Danielle auf meinen Wunsch hinzugezogen hat, nachdem die Nachrichten in den vergangenen Monaten immer bedrohlicher und unheimlicher wurden, kommt mir in den Sinn. Er hat gemeint, dass die meisten Stalker nur große Reden schwingen, jedoch nie etwas davon in die Tat umsetzen.
Ich sollte ihn ignorieren und meine Handynummer sowie E-Mail-Adresse erneut ändern. Gleiches hat mir ebenso der Polizeibeamte geraten, mit dem Danielle und ich gesprochen haben.
Dass ich nicht lache.
Ganze dreimal habe ich das getan, aber jedes einzelne Mal hat der Unbekannte bloß wenige Tage gebraucht, um an meine neuen Kontaktdaten zu gelangen. Blockieren hilft auch nicht, denn er wechselt ständig die Nummern, versteckt sich so gut in den Tiefen des World Wide Web, dass es anscheinend unmöglich ist, ihn aufzuspüren. Zumindest hat mir das der IT-Spezialist gesagt, den ich um Hilfe gebeten habe. Und obwohl die Polizei eine sogenannte MCID hinsichtlich der anonymen Anrufe eingesetzt hat, um diese zurückzuverfolgen. Das Einzige, was sie hinbekommen haben, ist, den Vorgang unter Verschluss zu halten. Meine Agentin hat den Cops und dem Spezialisten gedroht, dass wir ihnen den Arsch abklagen werden, sollte etwas an die Öffentlichkeit durchsickern.
Nicht einmal meine eigene Familie weiß, was vor sich geht, sie würde kollektiv verrückt vor Sorge um mich werden.
Im Film-, Musik- oder allgemein Showbusiness gehört ein Stalker fast schon dazu, jedenfalls hat meine Agentin das ganz zynisch gemeint, als ich ihr zum ersten Mal von den unheimlichen Nachrichten erzählt habe. Ich habe damals im Gespräch mit ihr bloß genickt, die Furcht weggelächelt und mir eingeredet, dass es genauso ist. Doch inzwischen kann ich das nicht mehr. Dieser Kerl weiß so viel von mir und meinem Leben, von den Menschen, die mir wichtig sind, Dinge, die er eigentlich nicht wissen kann.
Es ist, als wäre er überall.
Als würde er mich allmählich ersticken und auslöschen, was mich mal ausgemacht hat.
Bevor das alles begonnen hat, bin ich gern unter Leute gegangen, jetzt verkrieche und verstecke ich mich … und fühle mich trotzdem nicht sicher.
Erschöpft rappele ich mich wieder auf, sammle die restlichen Scherben ein und werfe sie in den Mülleimer, ehe ich dazu komme, den ausgeschütteten Kaffee aufzuwischen, klingelt mein Telefon. Ganz automatisch schlägt mein Herz schneller, beruhigt sich auch nur geringfügig, als ich auf das Display blicke und erkenne, dass mich meine jüngere Schwester Dakota anruft.
»Hey, was gibt’s?«, begrüße ich sie so übertrieben fröhlich, dass ich mir selbst gleich darauf gegen die Stirn schlagen möchte. Ich kann Dakotas kurzes Stutzen förmlich spüren, sicher findet sie mich seltsam. »Entschuldige, ich bin auf dem Sprung und etwas gestresst, weil ich spät dran bin.« Diese Ausrede dürfte sie schlucken, denke ich.
»Bleibt es dabei, dass du das nächste Wochenende nach Toronto kommst?«, erkundigt sie sich.
»Warum sollte es nicht?« Ihre Nachfrage verwirrt mich, schließlich haben wir diesen Besuch vor Wochen abgestimmt und ich habe mir extra drehfreie Zeit erarbeitet.
»Ich wollte nur sichergehen. Nichts für ungut, doch die vergangenen Monate hast du manchmal den Eindruck vermittelt, dass du uns nicht sehen willst. Deacons und Lunas Zwillinge sind beinahe ein halbes Jahr alt und du …«
»Zurzeit habe ich einfach viel um die Ohren«, falle ich ihr aufgebracht, aber auch ertappt ins Wort. »Der Drehplan ist eng, es war schon schwer, diese vier freien Tage beim Produzenten und dem Regisseur durchzubekommen. Ich spiele eine Hauptrolle, bin die tragende Figur des Films und man setzt gewisse Erwartungen in mich. Dass man mir Starallüren oder Ähnliches nachsagt, kann ich nicht gebrauchen.« Langsam trete ich an das Fenster des Appartements.
Dakota schnaubt entnervt. »Du musst nicht mit mir reden, als sei ich eine Idiotin, Autumn! Natürlich ist mir klar, unter welchem Druck du stehst.«
Noch so eine Sache, seit der Stalker zunehmend eskaliert, ist mein Nervenkostüm dünn. Immer wieder gerate ich mit meinen Geschwistern aneinander, dabei haben wir uns früher stets gut verstanden. Neulich erst hatte ich mit meinem Bruder Saint eine Auseinandersetzung, davor habe ich mich mit meiner anderen Schwester wegen irgendeiner Albernheit gefetzt.
»So war es nicht gemeint. Wie gesagt, ich komme nächstes Wochenende nach Hause.« Meiner Stimme habe ich einen versöhnlichen Klang gegeben und hoffe, dass Dakota damit besänftigt ist.
»Wunderbar, also können dich Dad und Bruce zur offiziellen Eröffnung von Silver Linings einplanen.«
Verflucht.
Das hatte ich vollkommen vergessen.
Wie konnte ich Bruce und die Eröffnung seines Security-Unternehmens so verdrängen?
Und ich würde drauf wetten, dass meine Schwester exakt darauf gesetzt hat.
Dad hat mir vor Wochen davon erzählt und gemeint, wie gut es passen würde, dass ich da nach Hause käme.
»Genau, ich freue mich. Ich muss wirklich los, wir sehen uns dann ja in ein paar Tagen. Hab dich lieb.«
Dakotas Seufzen dringt an mein Ohr. »Ich dich auch … vielleicht reden wir ja mal über das, was dich bedrückt, wenn du hier bist.« Ohne meine Antwort überhaupt abzuwarten, legt sie auf.
Tatsächlich würde ich den Besuch in Toronto nun am liebsten absagen, aber ich glaube, in dem Fall steigt Dad in den nächsten Flieger, um mich höchstpersönlich abzuholen.
Obwohl ich es nicht will, gerät mein Herz beim Gedanken an den Personenschützer sofort in Aufruhr. Unter meiner Haut prickelt und kribbelt es, während sich sein markantes Gesicht vor mein inneres Auge schiebt. Unauslöschlich eingebrannt hat sich mir seit unserer ersten Begegnung der Ausdruck in seinen ungewöhnlich grünblauen Iriden, die Art, wie er mich angesehen hat, mit einer … Ruhe und Tiefe, die mich bis auf meinen Kern erschüttert hat. Seitdem geht er mir nicht mehr aus dem Kopf. Auf mich wirkt er in seiner gesamten Erscheinung wahnsinnig attraktiv, aber was mich zuerst gefesselt hat, ist das, was in seinem Blick … was unter der Oberfläche liegt. Nie zuvor ist mir etwas oder jemand so schnell so unter die Haut gegangen. Er lässt mich nicht los und ist sofort präsent, wann auch immer ich an ihn denke, gleichgültig, wie sehr ich mich dagegen wehre.